Die Wagner-Gretel bewahrt und erzählt Geschichte
(Aus dem Lesebuch „1250 Jahre Kleinfischlingen“, Seiten 211 bis 213)
Eine angerostete Steckkapsel aus Blech mit je einer Öse am Unterteil und am Deckel reizte sofort zum Auseinanderziehen: Angegilbte Papierrollen!
Es gibt allerbeste Geschichtslehrer. Das sind erzählende Funde, Entdeckungen, wo noch kein Ofen und kein Baggerlöffel die Überführung in Gas und kleinste Stückchen vorgenommen haben. Wo halt noch Zusammenhänge von Verhältnissen geweckt werden.
Ja, die Blechkapsel! Drinnen Dokumente, im Jahr 1811 von französischen Generälen unterschrieben. Und das aufbewahrt von der Wagner-Gretel, der Ururgroßmutter von Lieselotte Geißert, Gudrun Habermehl und Kurt von Nida. Auf ihrem Grabstein kann heute noch jeder lesen, der auf dem Friedhof weiter nach hinten vordringt: geb. 1833, gest. 1905. Braucht man da noch trockenen Geschichtsunterricht, etwa im Schulbuch von Seite 191 bis 243?
„Ein Söldner überlebt“, könnte man jetzt drüberschreiben.
Ein lebendiges Beispiel dafür, dass dieses Dorf die angewachsene Bevölkerung nicht mehr mit Landwirtschaft ernähren konnte, sei mit meinem Vorfahr Johann Christoph Hartmann erzählt, der, 1787 in knappen Verhältnissen geboren, früh den Vater verlor. Die Mutter war Hebamme. Sie heiratete dann den Schneider Häuselbeck. Man lebte im Haus an der rechten Ecke Hauptstraße – Münchgasse.
1807 bot sich dem neunzehn- bis zwanzigjährigen Jungen eine Chance, einen neuen Erwerb zu finden, der ihn heiratsfähig machte.
Ein Mathias Wilhelm aus St. Martin war zur französischen Armee einberufen worden, denn der Imperator verschliss Millionen von Soldaten in seinen europa- und afrikaweiten Eroberungszügen und musste überall dort rekrutieren, wo er die besiegten Gebiete dem Mutterland Frankreich einverleibt hatte. Die ledigen 19- 20jährigen mussten herhalten. Auch hier im Département du Mont-Tonnerre.
Nun suchte der St. Martiner, der wohl finanziell in der Lage war sich freizukaufen, einen armen Ersatzmann, „einen Einsteher“, der für ihn in den Krieg zog, „en qualité de suppléant“.
Ob es hierfür eine geheime Börse gab oder Makler und Händler dies wussten? Jedenfalls tritt nun „Jean Christoph Hartmann, nativ de Kleinfischlingen, Departement Mont-Tonnerre“, als „chasseur a cheval“, als Jäger zu Pferde, in die Armee ein, macht einige Schlachten mit und kann 1811 am 13. März in Reggio, Oberitalien, entlassen werden. Drei Wochen später ist er bis nach Straßburg geritten und dann wohl nach Hause gelaufen. Jetzt kassiert er in St. Martin. Drei Wochen darauf heiratet er die Kleinbauern- und Schneiderstochter Elisabeth Sengler (1792-1879). Neun Monate später ist Katharina Hartmann (1812-1876) auf der Welt.
Christoph Hartmann übernahm den sicher nicht üppig bezahlten Posten des Feldschützen, wohl weil er als Soldat hierzu besonders befähigt war. Er lebte in dem Anwesen in der Niedergasse (heute Schmoll).
Als 1830/31 Jakob Wagner II., ein Enkel von Thomas Becker und dem begüterten Lehrer Jakob Peter Wagner, hier einheiraten will, geht dies nur bei großem Widerstand der eigenen Eltern, wie man erzählte. Das erste Kind musste wohl unehelich geboren werden. Es stirbt. Erst dann heiraten Katharina Hartmann und ihr Jakob Wagner II. Die Tochter Margarete, unsere Gretel, bleibt dann das einzige Kind. Harte Zeiten knapper Existenzsicherung. Johann Christoph Hartmann wird 77 Jahre alt und stirbt 1864.
Noch um 1900 macht der hiesige Lehrer Graf eine Notiz, dass ein Feldschütz Christoph Hartmann mit Napoleon Europa gesehen hätte und seine Geschichten im Dorf zum Besten gab.
Blechkapsel mit Entlassurkunde Foto: Regina von Nida
Ja, die Blechkapsel. Jetzt werden mal die Papiere auseinandergerollt! CONGE DE REFORME steht über einem Dokument, dem Entlassbrief, der den Soldaten beschreibt, ohne Fotographie. 1,68 groß, Haare und Schnurrbart rot, Augen blau, Stirn klein, nez petit, Mund klein, Kinn rond, visage oval.
An Schlachten teilgenommen: 1808 in der napoleonischen Armee und 1809 in der italienischen und in der deutschen.
In jeder Garnisonsstadt (Domodossola … Brig….Thonon ….) von Reggio über den Simplonpass (2000 m hoch, im Winter), an den Genfer See, nach Besançon, über Belfort erhielt Christoph Salär.
Nun hat die Enkelin des Soldaten, die Wagner-Gretel, dafür gesorgt, dass jetzt, noch nach 210 Jahren, in Kleinfischlingen Daten und Vorgänge der Weltgeschichte ganz praktisch am kleinen Objekt studiert werden können.
Dass diese brave Frau aus einer nicht standesgemäßen Heirat stammte, sehen ihr die zahlreichen Essinger und Fischlinger Nachkommen leicht nach. Wer weiß denn heute noch von diesem dummen alten Bauernstolz?
Autor: Kurt von Nida
Weitere Geschichten zum Leben in und um Kleinfischlingen finden Sie im Lesebuch der Gemeinde, das anlässlich des 1250jährigen Jubiläums im März 2022 erschienen ist. Weitere Informationen zum Buch und zur Bestellung hier: